Erwerbsreihenfolgen grammatischer Strukturen

Aus ZUM Deutsch Lernen
Version vom 22. Oktober 2008, 12:14 Uhr von deutsch-lernen>Erik Kwakernaak

Erwerbsfolgen grammatischer Strukturen

Schon lange beschäftigt sich die Spracherwerbswissenschaft mit der Beobachtung, dass Kinder beim (unbewussten) Erwerb der Grammatik ihrer Muttersprache durch bestimmte Phasen gehen, zu denen auch typische Fehler gehören, die sie eine Zeit lang alle machen. In den 1970er Jahren untersuchte man ähnliche Erscheinungen im natürlichen Zweitspracherwerb von Migranten, u.a. im Englischerwerb von lateinamerikanischen Einwanderern in den USA (morpheme studies u.a. von Burt & Dulay) und im Deutscherwerb von italienisch- und spanischsprachigen Gastarbeitern in Deutschland (ZISA-Projekt, Clahsen u.a. 1983). Um 1980 entwickelte der amerikanische Sprachforscher Stephen Krashen daraus die Theorie, dass Grammatik nicht gelernt (d.h. durch Unterricht, bewusste Regeln und gezieltes Üben), sondern nur auf natürliche Weise (unbewusst) erworben werden kann. Explizite Regeln kann der Lernende nur anwenden, wenn er seine Aufmerksamkeit auf die Form richtet und wenn er Zeit hat; beide Bedingungen werden beim normalen kommunikativen Gebrauch der Sprache und namentlich beim Sprechen nicht erfüllt. Diese radikale Trennung zwischen „learning“ und „acquisition“ brachte Krashen dazu, fast jeden Grammatikunterricht für sinnlos zu erklären. Diese Theorie führte zu heftigen Diskussionen unter Spracherwerbsforschern und zu vielen Untersuchungen, die jedoch keine eindeutigen Ergebnisse erbrachten. Die meisten Wissenschaftler bekennen sich heute zu einer moderaten Zwischenposition: Grammatikunterricht kann unter gewissen Bedingungen in einem gewissen Umfang gewissen Lernenden helfen. Manfred Pienemann (1984) brachte das auf einen praktischen Nenner in seiner Unterrichtbarkeitshypothese: Eine grammatische Struktur ist unterrichtbar, wenn der Lernende kurz vor dem (natürlichen) Erwerb dieser Struktur steht. Dann ist er sozusagen „reif“ dafür; eine explizite Regel und gezieltes Üben können dann den grammatischen Erwerbsprozess erleichtern und beschleunigen. Ein bestechender Gedanke: Wenn man die natürliche Erwerbsreihenfolge kennt, kann man die grammatische Einführungsreihenfolge danach einrichten und das optimale Grammatikprogramm konstruieren. Leider stehen da Schwierigkeiten im Wege:

  1. Die Wissenschaft hat noch längst keine allgemeingültige Erwerbsreihenfolge für grammatische Strukturen aufgedeckt.
  2. Das hängt u.a. damit zusammen, dass aufwendige und langwierige empirische Untersuchungen unter großen Gruppen von Fremdsprachenlernenden notwendig sind.
  3. Wenn auch der Entwicklungsweg der Lernenden vielleicht gemeinsame Strecken aufweist, gibt es jedenfalls zwischen Lernenden große Unterschiede im Entwicklungstempo.
  4. Nicht alle grammatischen Strukturen haben einen festen Platz im Erwerb. Es ist sicherer, von Erwerbssequenzen zu sprechen, die (zumindest global) für den Erwerb bestimmter grammatischer Komplexe gelten (z.B. die Kasusmarkierung im Deutschen, die „tenses“ im Englischen).
  5. Wahrscheinlich unterscheiden sich die Erwerbssequenzen je nach Muttersprache des Lernenden (für Niederländischsprachige, die Deutsch lernen, sind andere Sequenzen anzunehmen als z. B. für Russischsprachige).

Konsequenzen für die Einführungsreihenfolge im Grammatikunterricht

Die Wissenschaft hilft dem Lehrer nicht direkt und konkret weiter. Die Indizien sind aber stark: Eine Analyse von 1600 deutschen Aufsätzen von französischsprachigen Schülern in Genf (Diehl u.a. 2000) ergab für den tatsächlichen Grammatikerwerb in der Sprachproduktion dieser Schüler ganz andere Reihenfolgen als das Grammatikprogramm im Deutschunterricht. Im Prinzip ist jeder Lehrer selbst Experte: In der Unterrichtspraxis kann er beobachten, welche Grammatikregeln von den Lernenden nicht in Gebrauch genommen werden bzw. immer wieder „vergessen“ werden. Diese Regeln kamen offensichtlich zu früh, für sie sind die Lernenden in ihrem sprachlichen Entwicklungsprozess noch nicht reif. Dabei gibt es erhebliche Unterschiede zwischen Schreiben und Sprechen. Was beim Schreiben (d.h. nicht bei Grammatikübungen, sondern bei Brief- und anderen Schreibaufträgen) ankommt und relativ gut geht, „sitzt“ noch lange nicht beim Sprechen, wo offensichtlich ein viel höherer Beherrschungsgrad notwendig ist. Grammatikunterricht ist nicht sinnlos, doch die meisten Grammatikprogramme sind wahrscheinlich für die meisten Lernenden noch viel zu anspruchsvoll, d.h. die Progression ist viel zu steil (zu viel Grammatik in zu kurzer Zeit), und sie entsprechen noch zu wenig dem durchschnittlichen natürlichen sprachlichen Entwicklungsprozess. Einige vorläufige Annahmen für niederländischsprachige Deutschlernende:

  • Der verbale Komplex (Verben) wird früher erworben als der nominale Komplex (Kasusmarkierung).
  • Die Kasusformen der Personalpronomen werden früher erworben als in substantivischen Nominalgruppen (z. B. mich und mir früher als den bzw. dem Lehrer)
  • Die Kasusformen bei Präpositionen werden früher erworben als die „reinen Kasus“ (Markierung des Subjekts und direkten bzw. indirekten Objekts).

Für einen Vorschlag für die Einführungsreihenfolge im Deutschunterricht für Niederländischsprachige siehe Meijer (2004).

Literatur

  • CLAHSEN, H. / MEISEL, J. / PIENEMANN, M. (1983): Deutsch als Zweitsprache. Der Spracherwerb ausländischer Arbeiter, Tübingen, Narr.
  • DIEHL, E. / CHRISTEN, H. / LEUENBERGER, S. / PELVAT, I. / STUDER, T. (2000): Grammatikunterricht: Alles für der Katz? Untersuchungen zum Zweitsprachenerwerb Deutsch, Tübingen, Niemeyer.
  • KRASHEN, S. (1981): Second language acquisition and second language learning, Oxford: Pergamon.
  • KRASHEN, S. (1982): Principles and practice in second language acquisition, Oxford: Pergamon.
  • MEIJER, D. (Hrsg.) (2004): Advies-grammaticaleerlijnen Duits en Frans, Enschede: SLO.
  • PIENEMANN, M. (1984): Psychological constraints on the teachability of languages, in: Studies in Second Language Acquisition 6/2, p. 186-214.
  • PIENEMANN, M. (1985): Learnability and syllabus construction, in: HYLTENSTAM, K. / PIENEMANN, M. (eds.), Modelling and assessing second language acquisition, Clevedon, Multilingual Matters.