Hirnforschung

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Version vom 28. Januar 2022, 12:11 Uhr von Karl Kirst (Diskussion | Beiträge) (- doppelte Links)
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Das Gehirn in der Pubertät: Hindernis für selbständiges Lernen

In den meisten weiterführenden Schulen fängt die erste Unterrichtsstunde oft schon um 8.00 Uhr oder sogar manchmal noch früher an. Von Schülern in der Pubertät wird immer mehr selbständiges Lernen und Planen erwartet. Aber sind Pubertierende dazu auch imstande?

Bis vor einem Jahrzehnt noch gingen Wissenschaftler davon aus, das Gehirn des Menschen sei schon vor der Pubertät vollständig entwickelt. Man glaubte sogar, die Hirnentwicklung sei schon im Alter von 6 Jahren zu etwa 95 Prozent abgeschlossen, höchstens wüchse das Gehirn noch in Einzelkeiten weiter. Erst durch neue Untersuchungs- und Forschungsmethoden wurde vor einigen Jahren deutlich, dass die Entwicklung des Gehirns bis ins Erwachsenenalter anhält. In der Pubertät verändert sich das Gehirn sehr eingehend, was zum kennzeichnenden pubertierenden Verhalten führt. Auch glaubte man bis vor kurzem, lediglich Sexualhormone seien für dieses Verhalten verantwortlich.

Das Heranwachsenenalter wird oft nicht als eine gesonderte und einmalige Entwicklungsphase gesehen. Es ist eine Zeit in der einzigartige Veränderungen in intellektuellen Kapazitäten geschehen, emotionale Ausschweifungen und Empfindlichkeit für die Meinung von gleichaltrigen im Umfeld gehören auch dazu.

Aus sogenannten “Hirnscans” resultierte neuerdings: die Entwicklung des menschlichen Gehirns dauert bis weit über das 20. Lebensjahr hinaus.

Dieses Forschungsergebnis ist besonders wichtig in Bezug auf das Denken über selbstständiges Lernen, Planen usw. in Realschulen und Gymnasien in den Niederlanden.

Eine riesige Baustelle

In den ersten Jahren eines Menschenlebens wächst das Gehirn sehr schnell. Ständig werden neue Nervenverbindungen gebildet. Junge Kinder sind hierdurch besonders lernfähig, sie können alles aufnehmen, ohne Probleme verschiedene Sprachen lernen. In der Pubertät ändert sich Vieles: Das Gehirn setzt Schwerpunkte.

Während der Pubertät finden noch weitere große Änderungen statt. Zuerst entwickeln sich die Hirnbereiche für Sprache und räumliches Denken. Das sogenannte Präfrontalhirn, das vor allem für Planung, gedankliche Kontrolle, Unterdrückung von Impulsen, Organisation, Abwägen von Konsequenzen, Motivation und Entscheidungsbildung verantwortlich ist, bildet sich zuletzt aus. Dieser Wachstumprozess kann bis ins dreißigste Lebensjahr andauern. Deshalb gehen z.B. Jugendliche oft große Risiken ein und vernachlässigen Angelegenheiten, wobei sie die Folgen nicht übersehen können. Auch fällt es ihnen schwer, die Gefühle anderer Menschen und die daraus resultierende Situation richtig einzuordnen. Pubertierende sind oft launisch und gereizten Stimmungen unterworfen. Nicht so verwunderlich: ihr Gehirn ist gerade in dieser Lebenszeit eine riesige Baustelle.

Und dazu kommen noch die Hormone ...

Das pubertierende Gehirn wird gleichzeitig noch durch hormonelle Einflüsse mit neurochemischen Stoffen überflutet. Sexualhormone sind besonders aktiv, was zu einem Pulverfass von Gefühlen führt. Weiter ändert sich das Schlafmuster Pubertierender tiefgehend. So wird das Schlafhormon Melatonin ab der Pubertät nur verzögert gebildet. Hierdurch findet eine wichtige Veränderung des Biorhythmus statt und damit im Schlaf-Wachrhythmus des Heranwachsenden. Jugendliche werden erst spät am Abend müde. Viele gehen erst kurz vor Mitternacht ins Bett und können dann oft noch nicht einschlafen. Wenn morgens früh der Wecker klingelt, sind sie unausgeschlafen. Und das, während Jugendliche in der Pubertät mindestens neun Schlafstunden brauchen…..Sie erhalten diesen Schlaf allerdings beinahe nie. Es besteht das Risiko, dass Heranwachsende hierdurch zu wenig Schlafen aufbauen. Das Schlafdefizit kann großen Einfluss auf ihr Verhalten haben, außerdem ist es schwieriger gewonnene Information zu behalten.

Es ist wichtig zu wissen, dass das normale Veränderungen sind, die zur Pubertät gehören. Einen Heranwachsenden, der nicht in die Pubertät kommt und im Alter von sechzehn Jahren noch mit Murmeln spielt, kann man sich nicht vorstellen.

Funktionieren des Gehirns und lernen

Wie löst man eine schwierige Rechenaufgabe? Warum können so einfach eine zweite Sprache lernen, wenn wir jung sind, aber nicht mehr wenn wir älter sind? Warum gibt es Kinder, die schlauer sind als andere? Wir verstehen immer besser, dass diese Fertigkeiten von spezifischen Gebieten unseres Gehirns gesteuert werden. Einerseits wurde in den letzten Jahren immer mehr Aufmerksamkeit an das Wissen über das Gehirn erforscht, und was wir andererseits von Jugendlichen/Schülern in der Schule erwarten.

Was bedeutet dies alles für ‘Selbstständiges Lernen’?

Es wäre ein Mythos zu glauben, dass Jugendliche im Alter von 15 Jahren schon sehr selbständig lernen und arbeiten können. Unter Zugrundelegung der Hirnwissenschaft kann man annehmen, dass Jugendliche Begleitung und Dialog mit dem Lehrer brauchen. Das kommt dadurch, dass sich das Gehirn im Heranwachsendenalter noch in der Entwicklung befindet. Es gibt darum ein Limit wie viel Selbständigkeit man von einem Gehirn erwarten kann. Gerade die Gehirngebiete sind für das gute Planen wichtig, aber diese haben den Erwachsenenstatus noch nicht erreicht. Diese reifen noch und die Kommunikation zwischen den verschiedenen Gehirngebieten ist noch nicht optimal. Der Lehrer soll ihnen Struktur und Einsicht geben, sie anregen und komplementieren. Jugendliche möchten zwar Selbständigkeit, also auch selbständig lernen, aber sie brauchen Deutlichkeit zu dem, was von ihnen erwartet wird.

Und wie wär’s mit mindestens einer Stunde später Unterrichtsanfang? In den Niederlanden wechseln die Anfangszeiten in Schulen, aber eine Schule, die um acht Uhr morgens beginnt ist kein Einzelfall. Solange noch frühe Schulzeiten auf dem Plan stehen, ist es wichtig um das Schlafdefizit so viel wie möglich einzuschränken. Die meisten Heranwachsenden profitieren davon, am Wochenende so viel wie möglich auszuschlafen. Das ist kein aufständisches oder träges Verhalten; der Heranwachsende benötigt das, um in der darauf folgenden Woche in der Schule wieder Leistung zu bringen. Wenn es nicht möglich ist, die Schule später beginnen zu lassen, plan die ersten zwei Stunden Fächer wie Sport und Kunst ein, statt für Mathe oder klassische Sprachen.

Schüler und planen

Um eine gute Planung zu machen, muss man allerlei verschiedene Fähigkeiten haben. Planen erfordert eine gute Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Kontrollfunktionen: Flexibilität, Informationen filtern, Gedächtnis, Multitasking, Feedback gebrauchen, aufmerksam sein.

Alles in allem ist Planen eine ziemlich komplexe Angelegenheit, wodurch man im Stande sein muss, um Prioritäten zu setzen und Ablenkungen zu widerstehen, so dass man weit gesteckte Ziele erreichen kann. Hierbei braucht man eine ganze Reihe von Gehirngebieten.


Ursachen der Legasthenie

Legasthenie ist eine Schreib und Leseschwäche und beginnt im frühen Kinderalter. Oft vertauschen Legastheniker Buchstaben wie “b” und “d” oder “q’ und “p”, nehmen manche Wortsilben nicht richtig wahr oder reihen sie falsch aneinander. Nicht selten können sie ähnlich klingende Laute wie “p” und “b” oder “d” und “t” nicht voneinander unterscheiden. Andere typische Symptome einer Leseschwäche sind das Auslassen, Verdrehen, Ersetzen und das Hinzufügen von Wörtern und Wortteilen. Auch eine niedrige Lesegeschwindigkeit und mangelndes Leseverständnis sind oft zu erkennen. Sie verlesen sich oft oder verrutschen in andere Zeilen. Menschen mit einer Lese- und Rechtschreibstörung sind nicht weniger intelligent als andere, sondern es ist lediglich eine Teilleistungsstörung die sie jedoch oft das ganze Leben begleiten wird. Nur selten gibt es vorübergehende Legasthenie. Diese werden häufig durch Erkrankungen, Wohn- und Schulwechsel und seelische Belastungen hervorgerufen.

Über die Ursachen von Legasthenie gibt es in den letzten Jahren einige neue Erkenntnisse. Für eine allgemeingültige übergreifende Theorie reichen die Ergebnisse der Untersuchungen noch nicht. In manchen Familien kommt Legasthenie häufiger vor. Aufgrund dieser Tatsache hat die Forschung Untersuchungen zur Ursache der Legasthenie angestellt. Bei den neuen Methoden der Hirnforschung wurden die aktiven Gehirnbereiche die für das Lesen und Schreiben verantwortlich sind identifiziert. Eine Zusammenarbeit der linken und rechten Hirnhälfte ist unverzichtbar. Bei Legasthenikern ist eine reibungslose Zusammenarbeit der beiden Gehirnhälften nicht gegeben.

Zu diesem Thema nennt Tom Braams in seinem Buch 3 möglichen Abweichungen im Gehirn des legasthenischen Menschen. Die erste Abweichung ergibt sich aus den unterschieden der linker und rechter Gehirnhälfte des legasthenischen im Vergleich zu den nicht-legasthenischen Menschen. In dem Sprachverarbeitungsgebiet direkt hinter dem linken Ohr liegt das „Planum temporale“. Dieses Gebiet ist im Allgemeinen größer als das vergleichbare Gebiet hinter dem rechten Ohr. Das linker „Planum“ spielt für die Sprachverarbeitung eine bedeutende Rolle und ist deshalb größer. Anatomische Untersuchungen haben ergeben, dass es bei legasthenischen Erwachsenen kaum Größenunterschiede zwischen dem linken und dem rechten Planum gibt. Untersuchungen mit neurologischen Sensoriken, Computertomographie und nuklearen magnetischen Resonanz bestätigen diese Theorie. Die Neurologen Geschwind und Galaburda haben in ihren Untersuchungen festgestellt, dass die Anzahl der Gehirnzellen bei Legastheniker im rechten und linken Planum übereinkommen. Bis zum dritten Lebensjahr waren weniger Gehirnzellen abgestorben als bei Nicht-Legasthenikern. Mehr Gehirnzellen hat nicht unbedingt eine bessere Gehirnfähigkeit zu folge. Im Gegenteil, laut Braams ist hier Sprache von weniger Spezialisierung. Die Spezialisierung der Merkmale der eigenen Sprache ist nicht vorhanden. Die Sprachklänge werden nicht so schnell und weniger präzise verarbeitet.

Die zweite Abweichung wurde im Aufbau des Gehirns festgestellt. Braams spricht hier von kleinen Fehlern im Gehirn des legasthenischen Menschen. Diese Fehler wurden vor allem festgestellt in den wichtigen Sprachzentren des Gehirns. Die Zellen der Gehirnrinde sind in 5 Schichten geteilt. Jede Schicht hat seine eigene Funktion in dem Verarbeitungsprozess. Bei legasthenischen Versuchspersonen fand man Stellen an denen diese Zellen kreuz und quer verteilt waren. Über die Zellenschichten liegt das Membran (Trennschicht). Über dem Membran findet man im Allgemeinen keine Gehirnzellen. Bei Legasthenikern waren kleine Gruppen von Gehirnzellen durch Löcher im Membran herausgekommen. Die Struktur der Zellen an diesen Stellen ist chaotisch. Hieraus zieht Braams den folgenden Schluss: die Organisation des Gehirns ist hier anders; wahrscheinlich weniger effizient.

Die dritte Abweichung, die gefunden wurde, lag an der Thalamus der legasthenischen Versuchperson. Der Thalamus liegt unter dem Großhirn, der oberste Teil des Gehirnstamms. Das Großhirn wird viel vom Thalamus angeregt. Der Thalamus is verteilt in mehreren Kernen, die jeweils einen Teil des Gehirns steuern. In 2 Kernen waren die Gehirnzellen kleiner als normal. Einer dieser beiden Kerne ist verantwortlich für die auditive Verarbeitung der andere für die visuelle Verarbeitung. Die kleineren Zellen könnten die Ursache für die vorkommenden Wahrnehmungsprobleme bei Legasthenikern sein.

Zur Erbanlagen der Legasthenie bringt Braams seine Ideeen wie folgt zur Sprache: Wie schon angesprochen sind beim Aufbau im Gehirn des legasthenischen Menschen kleine Fehler gefunden. In der 25. Woche der Schwangerschaft werden die Teile des Gehirnrindes, die für den Sprachbereich verantwortlich sind, angelegt. Nach einem präzisen Drehbuch, in den Genen verschlossen sind, kommt jede Zelle an die richtige Stelle. Genau in dieser Woche, in dem das Sprachzentrum angelegt wird, produziert die Mutter Testosteron. Testosteron hat einen negativen Einfluss auf den Aufbau der linker Gehirnhälfte. Jungs produzieren als Fötus vor der 25. Woche der Schwangerschaft selber Testosteron. Wenn sie in der 25. Schwangerschaftswoche zusätzlich Testosteron von der Mutter bekommen ist die kritische Grenze schneller erreicht als bei Mädchen. Diese Hypothese erklärt weshalb Legasthenie öfter bei Jungs als bei Mädchen festgestellt wird.

Eine andere Erklärung, die weniger Unterstützung findet, sucht die Ursache der Legasthenie in Auto-Imunkrankheiten. Lernstörungen und Auto-Imunkrankheiten; von Allergien bis ernsthafte Krankheiten, treten oft zusammen auf. Auto-Imunkrankheiten könnten den Grund für die mikroskopischen Abweichungen in der Gehirnrinde erklären. Nach dem Neurologen Galaburda besteht bei Frauen eine größere Empfindlichkeit für Auto-Imunkrankheiten, weil sie über einen geringeren Schutz verfügen als Männer. Das Testosteron schützt nämlich ein wenig gegen Auto-Imunkrankheiten. Ein weiblicher Fötus mit Auto-Imunproblemen hat deshalb weniger Überlebungschancen. Nach dieser Theorie ist Testosteron nicht der Bösewicht, sondern der Hüter.

Beide Erklärungen weisen eine angeborene erbliche Ursache auf.

Deutlich wird, dass bei Legastheniker eine Veränderung in der Gehirnfunktion vorliegt. Legasthenie ist im Gehirn veranlagt. Äußere Umstände können Legasthenie negativ beeinflussen, sind aber nicht die Ursache.

Quellen


Linkliste

  • Quarks & Co Sendung vom 23. September 2003 (WDR):
  1. Warum das Lernen in der Pubertät so schwer fällt